Ruhelos in Ruß und Nebel
Rosina Sonnenschmidt: Ruhelos in Ruß und Nebel. Eine Kindheit im Ruhrpott. Amazon Distribution
Leipzig, 2014.
Rosina Sonnenschmidt ist, das darf man ruhig so sagen, in aller Munde: Die promovierte Musikethnologin ist Autorin vieler Sachbücher zum Thema Heilkunst und ganzheitlicher Behandlung in der Homöopathie sowie zum Thema therapeutischer Humor. Sie ist auch eine bekannte Clowntrainerin, Ausbilderin für zertifizierte Humorberater und seit 2013 auch 1. Vorsitzende von HumorCare Deutschland-Österreich. Wer so viel zu bieten hat, wird natürlich auch als Person Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das betrifft nicht nur die Leser/innen der vielen Bücher, die Rosina Sonnenschmidt schrieb, sondern auch diejenigen, die sie von Seminaren, Kongressen, Humor-Events oder auch von privaten Begegnungen her kennen.
Nun wird die Katze in einem authentischen Erlebnisbericht aus dem Sack gelesen. Rosina Sonnenschmidt nennt dieses vor kreativer Phantasie nur so sprühende Werk Autobiografie . Doch diese Bezeichnung ist zu kurz gegriffen. Denn was Rosina Sonnenschmidt in ihrem wunderbar leseleicht verfassten Buch vorlegt, das ist auch eine Kultur- und Alltagsgeschichte der jungen Bundesrepublik, exemplifiziert am Schicksal einer typischen Malocherfamilie aus dem Ruhrpott. Dorthin verschlug es die kleine Rosina im Alter von 5 Jahren, nachdem ihre junge Mutter von einem gewissen Cornelli verlassen wurde. Obwohl dieser zirkusorientierte Luftikus im realen Leben seiner Tochter Rosina nie präsent war, blieb er, der Super-Clown, für diese stets das große künstlerische Vorbild. Ihm eiferte sie in all den Jahren ihres ereignisreichen Lebens unverdrossen und konsequent nach.
Doch zunächst kam die Realität eines grauen Alltags im Ruhrpott, der von vier Protagonisten flankiert wurde: Das war die patente Kölsche Oma, die ihre Enkelin mit der fantastischen Welt von Jesus, Maria und all den Heiligen im Gefolge von Josef vertraut machte: Mit diesen Überirdischen sollte Rosina fortan sehr konkret und immer auf Augenhöhe lebhaften Umgang haben. Als nächstes kam die tapfere, vielfach überforderte, aber immer auch verlässliche Mutter dazu, die sich für ihre Kinder dermaßen abstrampelte, dass diese tatsächlich auf den berühmten grünen Zweig gelangten. Dies wäre ihr aber nicht gelungen, hätte es nicht den verschlossenen, brummeligen und oft völlig überforderten Stiefvater gegeben, der jahraus, jahrein in den Schacht fuhr, um seine Familie in der verrußten, schwefelgelb vernebelten Welt des Ruhrpotts einigermaßen anständig am Leben zu erhalten. Obwohl diesem Mann immer wieder mal die Hand ausrutschte, und zwar gehörig, baute sich doch eine Beziehung zwischen ihm und Rosina auf, die von gegenseitigem Vertrauen und unverkennbarem Respekt geprägt war. Und schließlich gab es noch die kleine Schwester, das Baby . Sie stand von Anfang an im Schatten von Rosina und kam dennoch prima mit ihr aus.
Das wären die Rahmenbedingungen, unter denen ein kleines, unglaublich phantasievolles Mädchen helles Licht und buntes Leben in die triste, lichtarme und rußgeschwärzte Welt von Fördertürmen, Abraumhalden und beengten Arbeitersiedlungen brachte. Um ein Beispiel anzuführen: Mit Hilfe eines Fernrohrs schlich sie sich nachts, bei klirrender Kälte, vors Haus, um als Sternguckerin die Enge dieser Welt zu verlassen und mit einem Gefühl der Schwerelosigkeit in die helle Sphäre einzutauchen, die von Gott, Jesus, Maria und dem Heiligen Josef bewohnt ist. Auch wenn es dafür vom Vater Dresche geben mochte, für Rosina war dies das Portal in eine Welt, in die sie seither konsequent (und erfolgreich) hineingewachsen ist. Selbst in den engen Schulalltag der Ruhrpottschule floss diese phantastische Welt ein. Rosina Sonnenschmidt führt als ein Beispiel jenes Nonsensgedicht an, das sie im Deutschunterricht gereimt hatte:
Wer will denn was von mir als Kind,
da lauf ich weg so ganz geschwind.
Ich zeig dem Papa so ne Nas,
denn morgen kommt der Osterhas.
Alles, was nicht der festgefügten Norm des tristen Alltagslebens folgte, war für Rosina eine Herausforderung. So gelang es ihr, in eine Welt einzutauchen, in der andere, neuartige Regeln galten. Sie schreibt (S. 123, 125): Ich sprach mit allen Dingen, denn alles schien mir beseelt und lebendig. Ich bekam ja auch Antwort aus dem Reich des Unsichtbaren. Es gab keine Kinderpsychologen und das war gut so. Meine Eltern fanden sich nur schwer damit ab, dass ich laut redend durch die Gegend lief. Mein Vater gab es irgendwann auf, mich zu fragen: Mit wem redest du denn da? Und das war gut so: Denn mal sprach sie mit dem Schrank, mal mit einem Lehmklumpen und mal mit einer Pflanze, die sie Fee nannte. Für den Vater war klar: Dat Kind is komisch.
Gerade dieses unbegrenzte komische Talent ermöglichte es Rosina Sonnenschmidt in der Folge ihres bewegten Lebens, eine nahtlose Verbindung von medizinischer Wissenschaft und darstellender Kunst und Musik herzustellen. Wer ihre vielen Bücher über Homöopathie und therapeutischen Humor liest, wird dies unschwer erkennen. Doch auch in pädagogischer Hinsicht haben die phantasievollen Ereignisse aus der Kindheit und Jugend ihre Auswirkungen gezeitigt. Rosina Sonnenschmidt schreibt (S. 193): Seit Schüler/innen in meine Praxis kommen, zugetextet von Stoff, erlahmt durch zu viel Theorie, sorge ich erst dafür, dass sie Zugang zu ihren Potenzialen finden und die verwirklichen, egal, wie sonderbar sie sein mögen, egal, wie die Außenwelt darauf reagiert. Was man aus dem Herzen heraus tut, bringt Erfolg und Selbstverwirklichung.
Diese schöpferische Verschmelzung von realer Alltagswelt und phantasievoller Kreativität wird bei der Lektüre dieser bewegenden Autobiografie ganz unschwer nachvollziehbar. Dem Leser, der Leserin ist dabei ohne jeden Zweifel ein Lesevergnügen sicher, das spannend, lehrreich, provokativ und nicht zuletzt sehr amüsant ist!
Michael Titze