Respektlosigkeit
Gianfranco Cecchin / Gerry Lane / Wendel A. Ray
Respektlosigkeit Provokative Strategien für Therapeuten
Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 1993
ISBN 978-3-89670-756-7
108 Seiten
Dieses Buch führt erst einmal zu einem Augenreiben. Wenn der amerikanische Professor Bradford Keeney in seinen einleitenden Worten zuspitzt, bleibt dies nicht aus: Ich heiße alle Kliniker zu diesem Fest der Narren willkommen. Auf dem Fest wird das gesamte Feld durcheinandergewürfelt, und den ewigen Wahrheiten der Praktiker wird eine Verwandlung nach der anderen angeboten. Es wird auf der Straße getanzt, alles auf den Kopf gestellt und das Innere nach außen gekehrt Wer aufmerksam den Titel des Buchs wahrnimmt, der ahnt, worauf er sich einlässt.
Und egal, an welcher Stelle man das Buch Respektlosigkeit aufschlägt, es bleibt eine positive Zumutung. So ist es auch im abschließenden Absatz des Buchs, wenn die Autoren beschreiben: Wir sollten stattdessen die Freiheit des Handelns besitzen, um irgendwie in der Lage zu sein, die Verwüstungen und Verzweiflungen des Lebens zu überleben, zu denen es unweigerlich kommt, wenn man mit den Tragödien des Lebens zu tun hat, um in der Lage zu sein, weiterzumachen und die Hoffnung nicht zu verlieren, fähig, auch in der Absurdität scheinbar unmöglicher Situationen, Humor zu entdecken, um unsere Begeisterungsfähigkeit und unseren Enthusiasmus zu speisen, auch wenn wir manchmal scheitern. Dieses Buch ist ein Versuch, einige unserer Überlebensstrategien zu beschreiben.
Treffender konnte in den frühen Jahren der provokativen Therapie die Praxissicht nicht beschrieben werden. Cecchin, Lane und Ray formulieren einen belebenden Arbeitsauftrag, den psychosozial Tätige ernstnehmen sollten. Dazu verlassen sie natürlich die üblichen Pfade der Familientherapie, entziehen sich bewusst einer ideologischen Zielrichtung und stellen die Idee der Respektlosigkeit dar. Wörtlich meinen sie: Die Respektlosigkeit hat nichts Revolutionäres an sich und hat auch nichts damit zu tun, die Unterdrückung in der Familie beziehungsweise in Institutionen zu bekämpfen. Es ist eine die Haltung des Therapeuten reflektierende Position, die ihn befreit und ihm zu handeln gestattet, ohne die Illusion der Kontrolle zum Opfer zu fallen. Die Position der systemischen Respektlosigkeit erlaubt es dem Therapeuten, auf den ersten Blick widersprüchliche Ideen nebeneinanderzustellen.
Dass dies in der therapeutischen und psychosozialen Praxis schwer fällt, werden viele aus der täglichen Arbeit wissen. Umso mehr ist das Buch Respektlosigkeit eine Herausforderung, die berufliche Praxis anders zu verstehen und so manchen Begriff neu zu definieren bzw. neu für sich zu definieren. Folgt man den Überlegungen von Cecchin, Lane und Ray, so verspricht dies auch eine spannende Reise. Schließlich heiße Respektlosigkeit, niemals eine einzige logische Ebene einer Position zu akzeptieren, sondern es vorzuziehen, mit verschiedenen Abstraktionsebenen zu spielen und von einer Ebene zur anderen zu wechseln .
Belebend wirken die Geschichten der Autoren aus der Praxis. Man hat bei der Lektüre, dass sie die buntesten Geschichten ausgepackt haben. Dies führt jedoch nicht zu einer Skandalisierung während der Lektüre, sondern zeigt vielmehr die Breite der Geschichten, die einem in der therapeutischen und psychosozialen Praxis begegnen. Das Buch Respektlosigkeit weitet den Blick.
Christoph Müller