Fest der Sehnsüchte
Wolfgang Oelsner
Fest der Sehnsüchte Warum Menschen Karneval brauchen Psychologie, Kultur und Unkultur des Narrenfestes
Marzellen-Verlag, Köln 2004
ISBN 3-9806384-6-4
144 Seiten
Eines vorweg: Als gebürtigem Düsseldorfer ist es mir nicht schwergefallen, das Buch eines Kölner Karnevalisten zu lesen. Es ist geradezu ein Vergnügen gewesen, dieser intellektuellen Auseinandersetzung mit dem närrischen Treiben seine Aufmerksamkeit zu schenken. Als ich dann im Kapitel Sehnsucht nach Heimat einen Rückblick auf die Heimathymne Am alten Schlossturm lesen konnte, ist die Koketterie mit der traditionellen kölnischen Konkurrenz so gut wie verfolgen gewesen.
Wolfgang Oelsners Buch ist eine Spurensuche nach sämtlichen Sehnsüchten, die sich mit dem Karneval verbinden lassen. Den Karneval beschreibt Oelsner als die Probebühne für die Begegnung mit den jeweils anderen, den versteckten Facetten und Gegenpolen unserer Identität . Im Spiel der verkehrten Welt dürften sie aufleben. Das Fest diene weniger als Kontrast als vielmehr der Steigerung eines Lebensgefühls, meint Oelsner. Da klingt sympathisch, was Oelsner zur Maskerade sagt: Da zieht jemand am Abend als stolzer Gardist in der Uniform seines Korps auf die Bühne, und bei anderer Gelegenheit lebt der gleiche Mensch Albernheiten im Clownsgewand aus. Als Motivation sind beide Aspekte denkbar: der Wunsch einem sonst nur versteckten Persönlichkeitsanteil freie Bahn zu lassen, wie auch der Wunsch, einen ohnehin ausgeprägten Charakterzug auf einer noch größeren Bühne unzensierten Raum zu geben ... Mag sich auch mancher in einer selbstverliebten Eigeninszenierung gefallen, so ist das Spiel mit der Verkleidung stets interaktiv. Die Maske will dem Du begegnen.
Für seine positive Sicht der Dinge ist Oelsner zu danken. Wenn er von der Sehnsucht nach Rollentausch schreibt, erklärt er, der Karneval biete wie kein anderes Fest Gelegenheiten zum spielerischen Rollentausch. Dies sei dann ein Spiel auf Zeit, bei dem niemand fürchten müsse, anders als beabsichtigt von seinen Mitmenschen gesehen zu werden. Als er die Lust auf Anarchie ins Gespräch bringt, stellt Oelsner fest, dass von ... Ventildurchbrüchen keine Revolutionen zu fürchten sind. Es sind ritualisierte, somit domestizierte Durchbrüche . Im Karneval pflege man die Anarchie als Tradition.
Dass der Katholizismus eine enge Verbindung zum karnevalistischen Treiben hat, ist keine Neuigkeit. Neu erscheint die Sichtweise, mit der Oelsner dem Brückenschlag von Kirche und Karneval begegnet. In der Freude am liturgischen Ausschmücken seien sich Kirche und Karneval ähnlich. Zunehmend übertreffe der Aufwand der Narren den der Theologen. Wörtlich: Auch eine Karnevalssitzung ist ... liturgisch aufgebaut. Dem festlichen Introitus folgen das Gloria, das Lob auf den Ruhm des Karnevals, und das Kyrie, dass der Geist des Frohsinns über die Narren kommen möge. Glaubensbekenntnisse werden gesungen ... und bei der Opferung geht die Kollekte inzwischen weit über den Zuggroschen hinaus. Eine Karnevalssitzung ersetze keine Messe. Doch wer Gottesdienst und Messe entwöhnt sei, werde überrascht sein, die Sprache seiner kindlichen Religionssehnsüchte im Karneval aufgegriffen zu sehen.
Auch die Sehnsucht nach dem Kindsein sind Thema der Oelsnerschen Betrachtungen. Dort vermerkt er, Menschen, die nach Kultur strebten, gewährten sich entlastende Auszeiten. Das Streben nach Kultur und Vernunft sei anstrengend. Ab und zu brauchen wir Urlaub vom Erwachsensein. Der Karneval erfülle die Sehnsucht nach dem Urlaub vom Erwachsensein. Wer die Spielregeln des Festes verstehe, werde sich in der Dosis nicht vergreifen.
Es macht Spass, den Gedanken von Wolfgang Oelsner zu folgen, ihnen möglicherweise noch einiges hinzuzufügen. Man ist versucht, die Ideen von Wolfgang Oelsner auszubauen. Denn sie sind eine gute Argumentationshilfe in den schier endlosen Diskussionen um die Sinnhaftigkeit närrischen Treibens. Oelsner bestätigt, dass Karneval ein Lebensgefühl ist, das auch zu seelischer Gesundheit führt. Karneval ist nicht nur Türöffner, wenn es um die Erfahrungen mit anderen Menschen geht. Es gibt auch Gelegenheit, Räume in sich selbst zu beleuchten, die bislang ausgeblendet waren.
Christoph Müller, Walsrode